Eine Analyse
Zinsen
Vielleicht hilft der Blick auf das europäische Zinsniveau der letzten Jahre zum besseren Verständnis des aktuellen Arbeitskonflikts in der Auseinandersetzung um eine angemessene Inflationsabgeltung der Gehälter nach der Zeit einer Pandemie und unerwarteten Kriegsausbrüchen. Der Periode negativer Realzinsen folgte eine drastische Erhöhung des Leitzinssatzes durch die EZB (Europäische Zentralbank). Während Eigentümer:innen hoher Vermögenswerte im ersten Fall „kalte Enteignung“ und „finanzielle Unterdrückung durch den Staat“ beklagten, betrachteten sie die Zinserhöhung als Beitrag zur Preisstabilität. Der gesamtwirtschaftliche Blick offenbart jedoch Implikationen auf elementare Versorgungsbereiche wie z. B. die Finanzierung des Gesundheitssystems, die Kinderbetreuung, den Teuerungsausgleich bei den Pensionen und vieles mehr. Hohe Zinsen verhindern realwirtschaftliche Investitionen und Impulse für Konjunktur und Beschäftigung. Hinzu kommt, dass die Lohnquote in Österreich seit den 1980er Jahren grundsätzlich sinkt und dadurch die Finanzierungsbasis der Altersversorgung substanziell schmälert. Die EZB-Zinspolitik ist bei Preisanstiegen durch Angebotsschocks bei der Inflationsbekämpfung kontraproduktiv, führt in die Rezension und bremst Investitionen, vor allem in jenen Bereichen, die eine sozial-ökologische Transformation benötigen würden. Begeisterung herrscht allenfalls bei den privaten Banken, die europaweit langfristige Liquidität zum Nulltarif im Ausmaß von rund 1,5 Bio. Euro erhalten, während die Mittel für Investitionen für Wachstum, Beschäftigung und Maßnahmen gegen die Klimakrise fehlen.
Vorausschauende Verantwortung sieht anders aus
Will man den allerorts beklagten Personalmangel in den Griff bekommen, so hilft der unverstellte Blick auf die Ursachen. Die Arbeitsbedingungen sind schlecht, weil sie angefangen vom Arbeitszeitmanagement – und da reden wir noch gar nicht von Arbeitszeitverkürzung! – über fehlende Wertschätzung den Arbeitnehmer:innen gegenüber, bis zum erforderlichen Standard von Weiterbildungs- und -entwicklungsangeboten, nicht dem gesellschaftsadäquat zeitgemäßen Standard heutiger Lebensplanung entsprechen. Die Arbeitsbedingungen sind schlecht, weil die Personalstrukturpläne die seit gut vier Jahrzehnten mit Hilfe der vier Grundrechnungsarten leicht eruierbaren Auswirkungen der Pensionierungswelle nicht einkalkuliert haben. Und: Die Personalnot hat ihre fundamentale Ursache in dem Umstand, dass die Bedeutung eines attraktiven Arbeitsplatzes nicht erkannt werden will, weil der Blick auf das Personal mit dem Fokus auf die Arbeitskraft begrenzt ist und das Schicksal der Personen ausgeklammert wird. Arbeitsplatzattraktivität hat – nicht nur, aber auch – mit angemessenem Lohn zu tun und dieser wiederum – nicht nur, aber auch – mit fairer Inflationsabgeltung. Dies, weil der Lohn nicht ausschließlich der Abgeltung der Arbeitsleistung dient, sondern im sozialen Gefüge auch die Bedeutung hat, Arbeitnehmer:innen von der Sorge um den eigenen täglichen Unterhalt und den ihrer Familie auch für die Zukunft nachhaltig zu entheben. Wer das ignoriert, verliert die besten und qualifiziertesten Mitarbeiter:innen. Die Industrie mag sich das eine Zeit lang leisten können, weil für die Wettbewerbsfähigkeit die Lohnstückkosten entscheidend sind. Beim öffentlichen Dienst hingegen kommt es nicht auf die Lohnstückkosten an, sondern darauf, dass ein hohes Lohnniveau essentiell für das Funktionieren der Daseinsvorsorge ist.
Politische Verantwortung
Als wesentliche Inflationstreiber gelten neben den Preisen für Lebensmittel und Wohnen die hohen Energiepreise, welche über erhöhte Verbraucherpreise an die Konsument:innen weitergegeben wurden. Hinzu kamen Profitmaximierung und die Ausweitung dieses Verhaltens auf Unternehmen, die von der Energiepreiserhöhung gar nicht betroffen waren. Preissteigerungen in allen Bereichen waren die Folge. Dennoch blieben wirksame Markteingriffe in Österreich aus. Der ÖGB hat nachhaltige Inflationsbekämpfung anstelle von bescheidenen Einmalzahlungen immer wieder gefordert. Andere europäische Länder, wie Spanien und Portugal, haben Maßnahmen gesetzt, um den Strompreis vom Gaspreis zu entkoppeln. Eine solche Maßnahme hätte in Österreich eine Inflationsdämpfung von 25% gebracht. Österreich zieht es vor, an geheimen Verträgen mit dem Gaslieferanten Russland festzuhalten und liefert sich damit energiepolitisch zwei kriegsführenden Staaten aus. Wenn sich nichts ändert, so sind die hohen Preise – ohne Eingriff – gekommen, um zu bleiben.
Wirtschaftliche Verantwortung
Es stimmt, dass es heuer wirtschaftliche Einbrüche etwa in der Industrie und bei Ausgaben für dauerhafte Konsumgüter gibt und es stimmt, dass das BIP vorübergehend sinkt. Dennoch steht die österreichische Industrie gut da, weil die Produktion rund 80 % über dem Niveau vom Jahr 2000 liegt. Die von den Unternehmen bezahlten Arbeitskosten stiegen aber preisbereinigt nur etwa um ein Fünftel, während eine Arbeitsstunde immer ergiebiger geworden ist, welch letztere Tatsache in eine unvoreingenommene und solide Analyse der Rechtfertigung einer Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich dringend einfließen sollte. Fakt ist: Den Großteil des Produktivitätsanstiegs kassierten die Unternehmen (bzw. deren Eigentümer:innen). Die steigenden Gewinne werden von den Unternehmen aber nicht investiert, sondern an die Aktionär:innen ausgezahlt. Hier zeigt sich das Phänomen Inflation als klassischer Verteilungskonflikt. Mit der desaströsen Zinspolitik der EZB wird die europäische Wirtschaft schlussendlich an die Wand gefahren. Nüchtern betrachtet zeigt sich demnach, dass Lohnzurückhaltung nicht nur unangemessen, sondern auch wirtschaftlich kontraproduktiv wäre.
Wirtschaftliche, politische und soziale Balance
Gerade heuer wird deutlich, dass infolge der traditionellen Berücksichtigung der „rollierenden“ Inflation des vorangegangenen Jahres, die Arbeitnehmer:innen in Vorleistung gegangen sind und ihre erlittenen Reallohnverluste im Nachhinein kompensieren müssen. Alles, was unter dem faktenwidrigen Mythos der Lohn-Preis-Spirale gegenteilig behauptet wird, ist spiegelbildlich verzerrte Wirklichkeit. Der Verhandlungsspielraum verbirgt sich begrifflich im Wort „kompensieren“. Soll dieses im Sinne von „ausgleichen“ begriffen werden, so müssten die Verluste in den Monaten der Vorleistung gegengerechnet werden, die Abgeltung somit deutlich über dem rollierenden Inflationswert plus einer allenfalls fiktiven Produktivitätssteigerung liegen. Die vorangegangenen Überlegungen zeigen, dass dies auch volkswirtschaftlich zur Belebung des Wirtschaftswachstums anzuraten ist. Höhere Kaufkraft würde hier nicht nur den Gedanken der Gerechtigkeit bedienen, sondern auch Mittel zur Konjunkturbelebung sein. Eine besondere Bedeutung kommt in diesem Jahr dem Generationenvertrag zu, weil die Pensionsanpassung mit 9,7% bereits fixiert wurde. Wenn die im aktiven Erwerbsleben stehenden Personen weiterhin die Altersversorgung der im Ruhestand sich befindenden Generationen finanzieren sollen, dann kann deren Inflationsanpassung nicht im Ernst auf oder gar unter dem Niveau der Pensionist:innen liegen.
Ganz allgemein muss sich der sozialpartnerschaftliche Dialog heuer bzw. mit Beginn des nächsten Jahres inhaltlich mehr als bisher bewegen und erweitern. Herkömmliche Stellschrauben, wie Mindestbetrag oder Einmalzahlung, werden nicht ausreichen, um den Interessenausgleich in einer innen- und geopolitisch veränderten (Arbeits)-Welt herzustellen. Für die Attraktivierung von Arbeitsplätzen lassen sich viele verborgene Stellschrauben finden: Anpassungen von Lebensverdienstkurven und Verteuerung von Überstunden seien hier als Denkanstoß genannt und besonders für den öffentlichen Dienst und die ausgegliederten Betriebe empfohlen. Die Arbeitszeitverkürzung wurde schon erwähnt. Es ist höchste Zeit, nach Jahren des technologischen Fortschritts zu erkennen, dass der Faktor Zeit nicht mehr entscheidend den Produktivitätsfortschritt bemisst. Die Zauberworte heißen Qualität und Fachkompetenz. Grundvoraussetzung ist ein Investitionsschub in die Bildung. Attraktive Arbeitsplätze mit hochmotiviertem Personal, das sich Gesundheitsvorsorge und angemessene wirtschaftliche Lebensumstände leisten kann, sind das Ziel.
Stefan Schön
Pressesprecher der UGÖD
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APA-Pressetext der UGÖD:
Gehaltsanpassungen: Mindestbetrag oder Einmalzahlung
werden nicht ausreichen